Tourenbericht

„Stubaier Höhenweg 2018“

Schotter-Sohlen-, Asphalt-Räder-, Luft-Propeller-Systeme

Das Ziel einer Reise ist kein Ort. Das Ziel einer Reise ist ein Gefühl, und so ist jede Reise eine persönliche Suche nach Erholung oder Herausforderung, nach Wachsen, nach Reife, nach Abenteuer oder sommerbrauner Haut.

An den letzten Tagen im Juni begebe ich mich als Wanderleiter zur Fortbildung „Wandern mit Senioren“, also Wandern mit mir selbst. Was gibt es zu beachten? Zunächst lädt die moderne Lindauer Hütte mit neuen Schlafräumen, Sanitäranlagen und WLAN ein, der ich meine Anerkennung für die verbesserte Hüttenqualität gebe. Dieses Lob wird durch das aufmerksame und freundliche Personal und Hüttenwirt Thomas noch gesteigert. Senioren neigen auch beim Wandern dazu, auf die Ergebnisse ihrer weit zurückliegenden Erfahrungen zu bestehen, was zum Thema der Fortbildung wird. Wandergruppen bestehen nicht nur aus Senioren, sondern haben eine Bandbreite (meine 29 – 69 Jahre) an Lebensalter. Gruppengrößen >12 werden teilweise fremdbestimmt, je nach Sektion, für mich ein merkwürdiges Thema. Mir wird wieder klar, dass die Tourenverantwortung nach wie vor bei dem Wanderleiter liegt und das Angebot mit den Teilnehmern abzugleichen ist. Grundsätzlich: Wer gesund nach oben losgeht, sollte auch wieder gesund unten ankommen! Die richtige Wandergeschwindigkeit und die vorherige Überprüfung (mit meiner Stubai Tour Gruppe der 21km  Alsterwanderweg und Michel Turmbesteigung) der Teilnehmer ist dabei der Schlüssel des Erfolges. Mit all diesem Wissen, gelang es den ersten Tag mit der Lehrgangspraxiswanderung umzusetzen und Beispiele des Kontrollverlustes zu erleben, lieber jetzt, als später mit der eigenen Gruppe.

Der zweite Tag beginnt mit einer Überraschung am Morgen. Das Schotter-Sohlen-System funktioniert bei mir nicht mehr, die Schuhsohlen lösen sich an beiden Stiefel ab. Das Ersatz-Klebeband reicht gerade für eine einfache Sicherung, die zur Verfügung stehenden Kabelbinder reichen leider von der Länge nicht aus und die Ersatzschnürsenkel werden als nicht belastbar eingestuft. Der gute Wanderleiter- ich - streicht die Hochgebirgswanderung für diesen Tag und begibt sich ins Tal. Ich bin nicht der einzige im Tal, zwei weitere Wandernde haben das gleiche Problem und ein Sportgeschäft im Visier. Eine schnelle Lösung muss her, da der Stubaier Höhenweg am Montagmorgen beginnen soll. Die österreichischen Sportgeschäfte scheinen den Trend, der geringen Schotter -Sohlen Systemlebensdauer erkannt und auch am Sonntag geöffnet zu haben. Es finden sich passende Wanderschuhe, aber mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit für das Hochgebirge, was sich aber erst später zeigen wird. (Schnell und billig ist eben doch nicht gut genug.) Mit Fortbildungswissen und festen Sohlen kann es in das Stubaital zum Höhenweg gehen.

Mit dem Asphalt-Rad-System ist die eine Hälfte der Gruppe aus Hamburg angereist, die anderen Personen haben das Schienen-Rad-System gewählt. Am Sonntagabend treffen wir uns im Hotel, von wo aus wir sogar eine gute Sicht auf eine große Anzahl von Fallschirmfliegern (Luft- Segeltuch-System) haben, die daneben auf der Wiese landen. Das Wetter ist wie erwartet: beste Wanderbedingung. Der Aufstieg am nächsten Tag wird durch das Seil-Rad-System beschleunigt und führt zum pünktlichen Start der Tour an der Dresdner Hütte. Der Weg ist so beschaffen, wie es im Alpenvereinsführer beschrieben ist: schwierig, verlangt Trittsicherheit und hat einige seilgesicherte Stellen. Das Tempo scheint für den Aufstieg passend. Der gelassenen Erfahrung der Älteren im Gelände steht die Angst vor dem Ungewohnten, Fremden, Betreten von Schotter, Felsen, Blocksteinen und Kanten am „Peil Joch“ im Gesicht der Anfänger gegenüber. Nun ist wieder Wissen gefragt: Wie soll es weitergehen? Antwort: langsam weitergehen, an 2. Stelle einordnen, umsichtiger weiterwandern. Welche Fußstellungen geben Sicherheit? Antwort:  schräg nach unten, seitwärts, Gewicht auf den Oberschenkel, an die Kinderzeit denken wie locker man Böschungen runter gestapft ist und immer wieder eine Pause machen, Wasser trinken, den Gaumen benetzen, um das Angstgefühl zu reduzieren.

Diese Etappe zwischen Dresdner Hütte und Sulzenauer Hütte  hat knapp 900 Höhenmeter und ist 4,1 km lang. Bei unserem guten Wetter lohnt sich der Abstecher zur „blauen Lacke“, einem der Schauplätze im Stubai der „Wilde Wasser Weg“. Der Moränensee erhält durch das Gletscherwasser eine ausgeprägte blau-türkise Färbung. Wir sind auf Sichtweite an der Sulzenauer Hütte angekommen, die Anspannung löst sich, eine glatte Felsenoberfläche bietet eine Sonnenbank ähnliche Gelegenheit, die wir nutzen, da es bestens zum Tagesverlauf noch passt.

Nach dem Abendessen wird abgesprochen, dass die Fortsetzung der Wanderung auf dem Höhenweg für die Anfänger keine Alternative ist.
>>> Die Ausweichstrecke Abstieg, Bus, Aufstieg zur Nürnberger Hütte wird als eine gute Lösung akzeptiert. Die moderne Welt hat uns mit WLAN und TV Empfang auch in alpiner Höhe erreicht, sodass das Brasilien - Mexico Spiel nicht eine GSM/ Internet Information ist, sondern Livebilder aus Russland zu sehen sind, was einige Wanderer sehr erfreute. Alpinhüttenpuristen konnten aber in einer anderen Stube ungestört sitzen.

Nun ist wieder Morgen und die haben bekanntlich immer eine Überraschung parat. Ach ja, unser Schotter-Sohlen-System hat wieder ein Probanden. Diesmal trifft es Marianne mit beiden Sohlen, die aber vorne und hinten noch am Schuh (derselbe Hersteller wie bei mir) halten. Da wir ja hier oben schon in der modernen Welt sind, wird die Zukunft ausgemalt: “eigentlich könnte Amazon das Stiefelproblem noch am selben Tag lösen“. Was wir nun wirklich bei diesen heutigen Stiefelherstellern brauchen, ist einen Service im Luft-Propeller-System, den wir per Smartphone erreichen, um per Transportdrohne die neuen Stiefel in weniger als 2 Stunden auf die Hütte liefern zu lassen. Wann wird es das geben? In 2, 5 oder 7 Jahren? Die mutige Marianne will es so mit den Stiefeln probieren.

Diese Strecke wird als die landschaftlich schönste Etappe des Stubaier Höhenweges bezeichnet. Von grünen Bergwiesen mit rauschenden Bächen, über Steinfelder mit ruhigen Bergseen bis hin zu schneeweißen Gletschergiganten und dem Gipfel der „Mair Spitze“ ist alles dabei. Wir steigen auf bis zur Mair Spitze und haben kein weiteres Handicap durch Schuhsohlen oder Teilnehmer erlebt. Auch hier bestätigt sich, dass das zuvor Gelesene zur Strecke passt: schwierig, Seilsicherungen und anspruchsvolle Wegstrecke nach unten zur Nürnberger Hütte. Die Gruppe ist wieder nach Bewältigung der unterschiedlichen Wegstrecken und mutigem Aufstieg vollständig in dieser Hütte. Die flexible Menügestaltung auf dieser Hütte erlaubt auch den Sonderwunsch nach einer „Lore Bratkartoffeln mir Leberkäs“.

Von der Nürnberger Hütte ging es tags darauf über das „Oberes Grüble“ und weiter zur alten Zollhütte.  Auf diesem Abschnitt sehen wir eindrucksvoll den gestaltenden Einfluss der Gletscher auf die Landschaft und die Gesteinsformationen. Das Panorama und die einmalige landschaftliche Gestaltung begeistern uns. Nicht umsonst wird ein Teil dieser Etappe als „Paradies“ bezeichnet; wir landen in der Bremer Hütte mit den regennassen Klamotten seit der Zollhütte. Meine neuen Stiefelsohlen zeigen bei nassen Verhältnissen die ersten Grenzen, glatte nasse Steinflächen lassen den richtigen Reibwert an diesen Schuhen vermissen.

Das Befragen der Wettervorhersage und des Hüttenwirtes der Bremer Hütte bewegt auch uns den unteren Weg zu wählen und nicht die Hochgebirgstour. Wir steigen am nächsten Tag bis zur Laponesalm (1472m) ab und nutzen das Asphalt-Rad-System im Gschnitz Tal. Zwischen Gurns und Gschnitz ist der Aufstieg 1100hm dann auch wieder leichter zur Innsbrucker Hütte (2369m). Bei 2055m hat sich dann „ein giftiger Keim“ gemeldet (6-8 Stunden Inkubationszeit) der sich nicht mehr im Körper aufhalten wollte und mit aller Gewalt den Ausstieg wählte. Dazu gesellte sich dann um 15:00Uhr der angekündigte Regen oder Hagel, was die Belastung des bereits geschundenen Körpers weiter schwächte. Nun war die Frage: „140“ anrufen oder die letzten 300hm zur Hütte noch schaffen? Die ebene Beschaffenheit des Weges erlaubte es, bei einer guten Breite von einem Meter und einer neuen Konfiguration der Gruppe weiter zugehen: an erster Stelle war nun die langsamste Person, dann kam das Keimopfer und an dritter Stelle war ich als Wanderleiter, um bei evtl. Schwankungen eingreifen zu können. In der Gruppe waren eine große Solidarität, und der Rucksack und dessen Inhalt wurde schnell auf alle übrigen Teilnehmer verteilt. In dieser Konstellation, gelang es uns mit Verspätung, aber noch deutlich vor dem Abendessen die Innsbrucker Hütte zu erreichen. Der Respekt aller Teilnehmer für das „Keimopfer“ dies durchgehalten zu haben war sicher und nicht das Luft-Propeller-System (Hubschrauber) gewählt zu haben. Ein warmes Bett und heißer Tee haben dann auch schon geholfen. Auf dieser Hütte wurde unsere Gruppe dann auch wieder vervollständigt. Der Aufstieg der beiden Anfänger im Regen von der Elferseite hatte bis 19:00 Uhr gedauert, aber ihnen auch Selbstvertrauen gebracht.

Diese Innsbrucker Hütte glänzte im Gegensatz zu allen vorherigen Hütten (die Beste war die Bremer Hütte mit 4 Doppelhaken pro Bett) mit der Abwesenheit von Garderobenhaken im Zimmer, was bei Regenwetter und nasser Garderobe besonders viel Spaß macht. Leider lässt sich das Hemd nicht mit  WLAN -Empfang trocknen – irgendwie verschieben sich hier Kriterien auf den Hütten.

Da sich am nächsten Morgen das „schöne Wetter“ nicht mehr zeigen wollte, der Gipfel Habicht im Nebel und Regenwolken verschwunden war, gab es nach der ersten Stunde Schotter-Sohle, das System Schotter-Rad mit 14 Personen im VW-T6 über 8km durch das Pinnisbach Tal nach Neustift zur Benebelung in der Sauna. Dies war im Angebot des Stubaier Hofes enthalten.

Das Ziel einer Reise ist kein Ort. Das Ziel dieser Reise ist das persönliche Gefühl, eine Suche nach Erholung (Sonnenbank Steinplatte, Sauna Hotel) oder nach einer Herausforderung (alle gesund wieder unten), nach Wachsen (neue Wanderfreunde begeistern), nach Reife (langsam zu gehen), nach Abenteuer (die Seilstrecken mit den abgeschrägten Stiefelsohlen zu gehen) und sommerbraune Haut habe ich auch bekommen.

Michael Kaufmann (Wanderleiter / OG Nordheide)

Impressionen von der Wanderung auf dem Stubaier Höhenweg